
Hugo Erfurth, 1927
Ein über einen langen Zeitraum geführtes Tagebuch – 35 Jahre im Falle von Käthe Kollwitz – offenbart viel von seiner Verfasserin, von ihren Gefühlen , Ansichten und Gemütszuständen. Es erlaubt, die Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit zu erfassen, und ebnet uns den Weg zum Verständnis ihres Werdegangs, ihres Engagements und ihres künstlerischen Werkes.
Um nur einige Attribute zu nennen : Es heißt von Käthe Kollwitz, dass sie eine sozial engagierte, pazifistische, sozialdemokratische, fortschrittliche und feministisch orientierte Künstlerin war. Ihr Werk , das ihre Meinung widerspiegelt, diente dem Anliegen des Volkes ; es war ein Werk, das der aggressiven, kapitalistischen Welt eine geballte Faust entgegenstreckte.
Was hat sie dafür bestimmt, neue Wege zu gehen und die sozialen, politischen, religiösen oder auch moralischen Konventionen in Frage zu stellen ? Den Konformismus abzulehnen? Neue Ideen anzunehmen ? Wer waren die Träger dieser neuen Ideen, die Reformatoren, die Antikonformisten und andere Verächter der bestehenden Ordnung, mit denen sie in Berührung kam ?
In ihren Tagebüchern offenbart sich ein bis jetzt wenig beleuchteter Aspekt ihres geistigen und persönlichen Werdegangs : ihre Geistesverwandtschaft und zuweilen persönliche Verbundenheit mit den Vertretern einer tiefgreifenden Reform der Gesellschaft , einer Lebensreform.
Einleitung
Am Ende de 19. Jahrhunderts findet in Deutschland eine rasend schnelle Industrialisierung statt, die tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft mit sich bringt.
Als Reaktion auf die wachsende Einflussnahme des Kapitalismus und der Verstädterung, die zum Individualismus und Materialismus führen, entdecken Intellektuelle und Künstler auf allen Gebieten neue und alternative Wege zur Realität der modernen Welt : Wohnen, Kunst, Tanz, Spiritualität, Sexualität, Erziehung….. Ihnen schwebt eine “Lebensreform” vor, jedoch ohne politische Aktionen innerhalb einer Partei.
Es fällt schwer, den komplexen Strang all dessen zu entwirren, was man weithin Lebensreform nennt: es ist eine Bewegung mit vielen Verzweigungen, die von dem protestantischen und sozialdemokratischen Bildungsbürgertum gegenüber dem Verlust der humanistischen Werte in die Wege geleitet wurde. Eine Bewegung hin zu einem naturnahen Leben, fern von den Großstädten (Jugendbewegung, Wohngemeinschaften, landwirtschaftliche Gemeinschaften), neue Erziehungsmethoden, sowohl auf dem Gebiet des Unterrichts (kein Frontalunterricht, gemischte Klassen) als auch der Moral (freie Sexualität), eine innovative Architektur, Städte in menschlicher Größe ohne Unterschiede zwischen den sozialen Milieus ( genannt sei Hellerau als erste Gartenstadt), Experimente mit neuen Kunstformen, wie zum Beispiel mit dem Tanz (Ausdruckstanz, Eurythmie), die Suche nach einer neuen Spiritualität (Rudolf Steiner, die Wanderprediger). Diese Bewegung stützt sich auch auf die Beiträge der Psychoanalyse (Freud, Jung), auf neue Erziehungskonzepte, insbesondere von Fichte und Goethe und schließlich auf die bahnbrechenden Ideen August Bebels zum Platz der Frau in der Gesellschaft:
“dass die Frau dem Manne gegenüber …. ökonomisch frei und unabhängig von ihm und in geistiger Ausbildung ihm möglichst ebenbürtig sei.” – die Frau und der Sozialismus -1879-
Käthe Kollwitz und ihre Geschwister wuchsen in einer dissidenten protestantischen Familie auf, die sich der Meinungsfreiheit und den Ideen der aufkommenden Sozialdemokratie verschrieb. Sie waren empfänglich für diese neuen Ideen und diese Protestbewegungen, die die ehemaligen wilhelminischen Strukturen aufbrach und die Werte der kapitalistischen, industriellen Gesellschaft in Frage stellte.
Ihre Kinder, die von diesem « Mutterboden …. Ein gesegneter Boden» ( Erinnerungen 1923)“ genährt worden waren (Erinnerungen 1923), streuten ihrerseits diese Saat auf ihrem eigenen Weg. Sie machten sich in noch größerem Maße von den alten Strukturen frei und setzten die neuen Ideen in ihrem alltäglichen und beruflichen Leben in die Praxis um.
Käthe Kollwitz war sich dessen übrigens bewusst und auch stolz darauf, denn sie schreibt am 15. Dezember 1914: « Meine jungen Söhne…. die Ihr uns führet, nicht wir Euch. Aus uns hervorgegangen, über uns hochwachsend, uns mitnehmend.»… In ihren Tagebüchern finden wir zahlreiche Anspielungen auf die Liberalisierung der Sitten, auf die neue Denkweise, auf die militanten Protestbewegungen und auf die Vertreter des Zeitgeistes am Scheideweg der zwei Jahrhunderte.
Käthe Kollwitz erlaubt uns auf diese Weise ins Herz dieser neuen Erfahrungen vorzudringen. Trotz ihres großen Interesses für diese völlig neuen Ideen, war sie selbst nur wenig involviert und warf manchmal einen kritischen Blick auf die Bewegung mit all ihren Übertreibungen und Abweichungen. Ihre Söhne dagegen, ihre Verwandten und Freunde haben oft eine beachtliche Rolle in dieser Bewegung gespielt und standen manchmal sogar in engem Kontakt mit deren führenden Persönlichkeiten.
Im Laufe ihres Lebensberichtes und angesichts ihrer Anmerkungen und Überlegungen nimmt die „Lebensreform“ Gestalt an: sie heisst Käthe, Hans, Peter, Lise, Trude, Heinrich, Max und andere.
Käthe Kollwitz und die Emanzipation der Frau
In einem Milieu liberaler Ideen aufgewachsen, in dem die Mädchen die gleiche Erziehung erhalten wie die Jungen, studierte sie, konnte ihre eigenen Entscheidungen treffen und sogar weit weg von der Familie leben: in ihrem Fall in München, im Künstlermilieu, das mit seinen neuen Ideen zur Befreiung der Frau und einer freien und ungehinderten Sexualtität geradezu übersprudelte. Es prägte ihr Liebesleben und erlaubte ihr, besonders mit ihren Söhnen, von sinnlichen Genüssen zu sprechen, und einen Zyklus erotischer Zeichnungen herzustellen: „Secreta“, zu dem aber die Öffentlichkeit keinen Zugang haben sollte, wie schon der Name deutlich macht.
„Die Frau und der Sozialismus“, von August Bebel, 1879 erschienen, war eine der Referenzlektüren der Intellektuellen dieser Zeit, die sich für die Emanzipation der Frau einsetzten Kaum war das Buch erschienen, ging es schon in ihrem Familienkreis von Hand zu Hand: « Hans Weiß [ein Freund ihres späteren Mannes] drang mit seinen Ideen über freie Liebe bis zu unserer Familie vor und bearbeitete Julie mit all den Auffassungen aus der Bebelschen Frau ». – Erinnerungen 1923-
Der Einfluss dieses Buches auf die Jugend war groß, vor allem auf die jungen Frauen, und insbesondere die jungen Künstlerinnen ihrer Schule in München.
Käthe Kollwitz und ihre Freundinnen, darunter Rosa Pfäffinger und Beate Jeep, waren gierig nach Unabhängigkeit, strebten jedoch nach einer Freiheit, die weit über die Position der Sozialdemokratie hinausging: « In unserem damaligen Zustand galt das Zölibat als unerlässlich für eine ernst zu nehmende Malerin » schrieb Beate Jeep.
Rosa Pfäffinger, die in Paris in einer Wohngemeinschaft lebte, erzählte:
«Unsere Gemeinschaft stellt ein Laboratorium dar, in dem die Zukunft Experimente mit Lebensformen macht, mit einer neuen Moral. Sie ist der Versuch, das überlebte….Familien- und Ehesystem zu sprengen »
Sie waren gegen die Institution der Heirat, aber auch gegen die Männerherrschaft über die Lebensgefährtin in einer freien Lebensgemeinschaft. Käthe Kollwitz stellte sich übrigens Fragen zu ihrer Wahl einer klassischen Verbindung, denn sie hatte sich vor dem Aufenthalt an der Schule in München mit Karl Kollwitz verlobt.
«Das freie, mir sehr wohl gefallende Leben in München erweckte Zweifel in mir, ob ich wohl getan hätte, mich so frühzeitig durch Verlöbnis zu binden ….» – Erinnerungen 1923 –
Ihr offener Ton ihre eigene Sexualität betreffend ( sowohl in ihrem Tagebuch, als auch und vor allem in den „Erinnerungen“, die als Grundlage zu einem Biographieprojekt bestimmt waren, also veröffentlicht und dem Publikum bekannt gemacht werden sollten) beweist ohne Zweifel, dass sie eine „ emanzipierte„ Frau war, die vor aller Augen zu ihren Wahlen steht.
– « [ ich bin] immer verliebt gewesen, es war ein chronischer Zustand, mal war es nur ein leiser Unterton, mal ergriff es mich stärker. In den Objekten war ich nicht wählerisch. Mitunter waren es Frauen, die ich liebte» – Erinnerungen 1923 –
– « Rückblickend auf mein Leben muss ich zu diesem Thema noch dazu fügen, dass, wenn auch die Zuneigung zum männlichen Geschlecht die vorherrschende war, ich doch wiederholt eine Hinneigung zu meinem eigenen Geschlecht empfunden habe,…..Ich glaube auch, dass Bisexualität für künstlerisches Tun fast notwendige Grundlage ist, dass jedenfalls der Einschlag M. in mir meiner Arbeit förderlich war. – Erinnerungen 1923 –
– « Karl hatte diese feste Einstellung auf die Liebe, aber ich nicht. Ich band mich nur von einem Grade ab, bis zu demselben hielt ich mich frei. War doch furchtbar verliebt. Mit beigetragen hat sicher die Zeitströmung zur freien Liebe. » » – 14. Oktober1917 –
– « Hätte ich nicht Karl geheiratet und wäre damit eine mich oft beengende aber im ganzen glückliche und gesunde Einkapselung des Geschlechtstriebs vorgenommen – so hätte ich meine Ledigkeit wohl schlecht benutzt. » – Mitte Mai 1922 –
Mit ihren Söhnen diskutiert sie ganz natürlich über sexuelle Fragen, wie die Masturbation oder die Homosexualität.
– « Zwei Gymnasiasten nehmen sich aus unbekannten Ursachen das Leben. Es heißt, einer von ihnen soll infolge Onanie einen Defekt gehabt haben. Mit Peter Über Onanie gesprochen. » – 6. September 1909 –
– « Ich nehme an, dass damals eine so starke Verdrängung der Sexualität bei ihm stattgefunden hat, dass die späteren homosexuellen Gefühle und das geringe Gefühl Mädchen gegenüber vielleicht seinen Grund darin finden. Er spricht vom Sommer 1914. Ich erstaunt, ich glaubte, dass erst später im Kriege er das kennengelernt hat. Er: “Nein – Erich !” Dies hat mich erschüttert. Er liebte den Erich. Ich ahnte das nicht. » – August 1919- Nach der Sommerreise –
Käthe Kollwitz, die Religion und die neue Religiosität
In einem abtrünnigen, protestantischen Milieu geboren, das sich von der offiziellen evangelischen Kirche abgegrenzt hatte, hat Käthe Kollwitz gegenüber der Religion eine agnostizistische Haltung, die vom kantischen Skeptizismus ihres Großvaters Julius Rupp inspiriert wurde und steht daher der Religion und jeglicher neuer Form von Spiritualität zurückhaltend und kritisch gegenüber: Rudolf Steiner und seine Epigonen, deren Esoterik den Mystizismus der anarchistischen Gemeinschaften stärkt, wie die des Monte Verità.
1 – In ihren Tagebüchern zeigen ihre Bemerkungen zur Religion, in welcher Beziehung sie zur Kirche steht und in welchem Maße sie sich für Religionsphilosophie interessiert.…
« Warum also bin ich für Austritt aus der Landeskirche ? Menschen, die überzeugt gegen die Kirche stehen, gehören ihn nicht an, die sind allemal schon ausgetreten, es handelt sich um Laue, die so auch so können. » – Totensonntag 1913 –
– « …. Dass ich in der Zeit mir etwas klarer zu werden versuchte über das was meine Religion ist. – Juli1915 –
– « Man sagt das Gebet soll ein Ruhen in Gott sein, ein Einsfühlen mit dem heiligen Willen. Wenn es so ist, dann bin ich – mitunter- im Gedenken an Peter im Gebet. Das Bedürfnis zu knien… . » – Ende Juli 1915 –
- « Ich will Gott die Ehre geben auch in meiner Arbeit, das heißt ich will wahr
- sein, echt und ungefärbet » – Silvester 1914 –
– « Ein Psychochirologe sagte mir heute … aus meiner linken Hand, dass meine Entwicklung im Fluss sei…. Starker religiös philosophischer Einschlag… ». [16. Juli 1929]
- « Aber meine [Mutter/ Pieta] ist nicht religiös …[sie] bleibt im Sinnen darüber, dass der Sohn nicht angenommen wurde von den Menschen. Sie ist eine alte einsame und dunkel nachsinnende Frau.» – Dezember 1939 –
2 – … und begründen daher ihre Kommentare zum Thema Theosophie und den Wanderpredigern, wie Theodor Plievier, den sie persönlich kannte und von dem sie ein Portrait angefertigt hatte:
– « Plievier, z.B. Im Frühjahr will er losgehn, wandern und predigen, aber die innerliche Tat, …Bodenbereitung von einem neuen geistig befreiten Leben. Er nähert sich schon dem *Stark und *Häusser, die meiner Meinung nach verrückte und üble Leute sind. Falsche Propheten. Dann all die Gemeinden, die einen neuen Erotismus predigen…. Das erinnert schon an die Wiedertäufer, an die Zeiten in denen – wie jetzt – die Weltwende ausgerufen wird….. Gegenüber all diesen Phantasten kommt mir mein Tun klar vor . » – 4. Dezember 1922- (*Ludwig Christian Häusser und *Leonhard Stark waren Wanderprediger)
– « Plievier war eben hier. » – 2. Juni1923 –
– « Gestern in einer theosophischen Versammlung gewesen (Steiner). » – 16. Dezember 1910 –
– « Aller Glaube, der etwas Mystisches mit sich führt kommt wieder in Aufnahme. Die große Verbreitung der Theosophie. Unglaube wird unmodern, zum mindesten rationalistischer Unglaube.» – Totensonntag 1913 –
– « Ich meine, ob hier im sinnlichen Leben eine Verbindung herstellbar sein kann zwischen dem noch körperlich lebenden Menschen und dem Wesen des körperlich Toten. Ob das dann Theosophie oder Spiritismus oder Mystizismus heißt ist mir ganz gleich. Ob es möglich ist, kann wohl jeder erfahren….. Die Theosophen sagen, mann kann langsam lernen in jene Welt hineinzu fühlen. » – 21. Oktober 1916 –
- « Lore Schumann war hier. Ich sah mit Staunen ihre geistige und körperliche Frische. Sie sagt, das komme von der Arbeit für die Steinerschen Ideen her. Sie hat wohl recht und das gibt zu denken » -28. September 1919 –
Käthe Kollwitz und die Psychoanalyse
Nach dem Untergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wird Berlin eines der wichtigsten Zentren der internationalen, psychoanalytischen Bewegung und eine groβe Anzahl von Analytikern lässt sich dort nieder: das erste psychoanalytische Institut wird 1919 von Ernst Simmel gegründet, einem Kollegen von Karl Kollwitz.
1913 hatten sie mit Ignaz Zadek den «Sozialdemokratischen Ärzteverein » gegründet, um eine soziale Medizin zu entwickeln, die auch den Ärmsten zugänglich ist.
- « Karl gibt mir einen Aufsatz vom Psychoanalytiker Simmel, der die psychischen Erkrankungen unserer Zeit psychoanalytisch zu erklären sucht.» [Mitte Oktober 1919] ( italiques)
Die Schriften von Freud und namentlich Jung zirkulierten in den Kreisen des Bildungsbürgertums, man diskutierte darüber, die Selbsteinschätzung änderte sich, man analysierte sein Verhalten entsprechend dieses neuen, analytischen Ansatzes zum Verständnis der Psyche:
– « Wir sitzen um den Tisch in der Eßstube und sprechen über Freud. Abends lesen wir drei den Freudschen Aufsatz über kulturelle Sexualmoral. (1908) » – Sonntag, 28. Juli 1918 –
- « An die ganze Brautzeit denk ich nicht gern, erinnere mich nicht gern. Nicht gerade ungern aber nicht gern. Liegt da ein Freudsches Vergessen wollen drin ? » -Sonntag 28. September 1919-
Man begann, sich diesen neuen Therapeuten zuzuwenden, wie Magnus Hirschfeld, dem ersten Arzt, der die Sexualität auf wissenschaftlicher Ebene studiert hat und einer der Gründerväter der homosexuellen Befreiungsbewegung war , oder auch Toni (Antonia) Suβmann, Mitbegründerin der ersten C.G. Jung Gesellschaft in Deutschland:
« …Hans schleppt sich mit so vielem Quälenden. Manchmal denk ich, ob er gut täte sich von Freud analysieren zu lassen ? » – 20. Januar 1911-
– « … Wie … ich ihn [Hans] frage, wo er am Tag war, sagt er mir zögernd, dass er sich entschlossen hat sich psychoanalysieren zu lassen. Und dass Magnus Hirschfeld ihn beraten hat . » – 25. Februar 1919 –
– « Ottilie ist in Psychoanalyse bei Frau Toni Sußmann » – März 1928 –
- « Am 1. Januar 1932 kommt vormittags die Analytikerin Toni Sußmann her. Hans hatte sie gebeten mit mir zu sprechen, damit sie sich eine Meinung bildet, ob eine Behandlung durch Jung bei mir noch Sinn hätte. » [Januar1932]
Otto Gross, ein ketzerischer Anhänger Sigmund Freuds, der uneingeschränkte sexuelle Freiheit, Homosexualität und Polygamie propagierte, setzte seine revolutionären Theorien besonders auf dem Monte Verità in die Praxis um und hatte eine Vielzahl von Geliebten, darunter Getrud Prengel, Käthes Kusine ersten Grades, die mit Heinrich Goesch verheiratet war.
« Sie [Gertrud] hatte mit Gross ein Verhältnis…. » – Oktober 1924 –
Max Wertheimer, der Begründer der ‘Gestalttherapie’ , lebte viele Jahre bei Lise Stern, der Schwester von Käthe Kollwitz. Er wurde fast Teil der Familie und Käthe Kollwitz zitiert ihn oft.
« Lise war mit Rele bei Peyser wegen deren häufigen Kopfschmerzen….Wertheimer behütet Mariele und Kati [Rele, Mariele, Kati sind Lises Töchter] » – 14. September 1909
– « Abends kommen Lise Georg Wertheimer. Es wird ziemlich unklar über alles mögliche Philosophische gesprochen. Ich lese Heinrichs theosophische Gedichte vor » – 12. Februar 1916 –
– « Abends Lise und Wertheimer hier. Wir lesen Heinrichs Brief an Rudolf Steiner.» – 13. Mai 1916 –
Lise fühlte sich von Gross’ Theorien angezogen, die ihr von Getrud Goesch und ihrem Ehemann Heinrich übermittelt wurden …..
« Lise ist doch durch Goeschs beeinflusst. Durch das offene Bekenntnis zur Polygamie. Das imponiert ihr. Und scheint ihr eventuell nachahmenswert. . » – 20. August 1909 –
…und sollte bald dem Charme des jungen Max Wertheimer erliegen. Aber diese Liebe zu dritt lieβ die Ehe Stern fast zerbrechen.
« Ich war mit Lise in dem Café Kaiserhof am Potsdamerplatz. Da sagte sie mir alles, was in diesen letzten Jahren zwischen ihnen dreien gewesen ist. […] Jetzt begreife ich das alles. » – Ende März 1911 –
– « Wie es liegt geht – wenn nicht die Zeit alles bessert – entweder Lise zugrunde oder Georg hält es nicht aus. Lise wäre zwar freier, wenn Wertheimer stürbe, es wäre die beste Lösung…. Das Schlimmste ist der Riss zwischen Georg und Lise » – April 1911 –
Käthe Kollwitz, die Jugendbewegung und die Reformpädagogik
Käthe und Karl, Anhänger des sozialen und militantischen Protestantismus des Groβvaters mütterlicherseits, Julius Rupp, und überzeugte Sozialdemokraten – Karl war Mitglied der Partei und trug dort Verantwortung – erzogen ihre beiden Söhne im Geiste der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität. Infolgedessen engagierten sich Peter und Hans in der reformerischen Jugendbewegung – einer Bewegung, die sich zum Ziel setzt, die Jugendlichen weitab von der Welt der Erwachsenen zu erziehen. Sie strebt also eine neue Erziehung im Geiste Fichtes an, die radikal mit den Regeln der traditionellen Erziehung bricht:
“Die Erziehung muss …..nur Wechselwirkung mit dem Zögling, nicht Einwirkung auf ihn [sein]. “ – Zweite Einführung in die Wissenschaftslehre –
Der Begriff : “ neue Erziehung “ erscheint zum ersten Mal in den “ Reden an die deutsche Nation” :
“ Ohne Zweifel werden doch die Zöglinge dieser neuen Erziehung, obwohl abgesondert von der schon erwachsenen Gemeinheit, dennoch untereinander selbst in Gemeinschaft leben, und so ein abgesondertes und für sich selbst bestehendes Gemeinwesen bilden… “ – Zweite Rede an die deutsche Nation –
In Käthes Tagebüchern finden sich Anspielungen auf diese Bewegung und sie zeigen, welche Bedeutung sie ihr zumaß.
Siegfried Bernfeld, einen der Theoretiker der Bewegung, der für eine Reihe von Konferenzen nach Berlin gekommen war, nahm sie sogar bei sich auf :
“ Bernfeld wohnte eine Woche bei uns. Er vertritt in der Jugendbewegung den praktisch revolutionären Teil. Aus Wien musste er fort, lebt jetzt in Freiburg» Juni1914
« Hans hat jetzt eine Fichte-Gruppe gegründet, in welcher die « Reden an die deutsche Nation » gelesen werden sollen. Auch Peter ist in diesen Gedankengängen ganz drin. » – Avril 1914 –
– « Mit Hans und Peter einen wunderschönen Tag … zugebracht. .Sie sprechen über Fichtes « Reden an die deutsche Nation ». Viel mehr als ich dachte sind die Jungen, besonders Hans, davon beeinflusst ….. [sie] erhoffen sich durch Beeinflussung der Jugend im Fichteschen Sinne eine Umgestaltung der Menschheit nach dem Ideellen hin. » [April1914]
– « Hans hat mir seine beiden Aufsätze über Jugendbewegung gegeben ….Gut ist selbstverständlich, dass er aus dem individualistisch egoistischen Empfinden sich heraushebt….. [ er sagt] wir treten zu Gemeinschaften zusammen, in denen einer den andern stützt. Große – von Familie und allem äußeren Leben abgelöste – Internate sollen die Jugend heranbilden zu festen Keilen, die im Leben später nicht zerbrochen und zerbogen werden können….die ideelle Linie, die vom Großvater her über Vater und Konrad auf Hans übergesponnen wird.» – 4. Mai 1914 –
Das Erziehungskonzept Goethes, mit dem Käthe Kollwitz vertraut war, sind der Philosophie dieser Bewegung auch nicht fremd. Goethe sagt in ‘Hermann und Dorothea’ :
“Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen; So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben, sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren, denn der eine hat die, die anderen andere Gaben….”
… und veranschaulicht später in “die pädagogische Provinz” des “Wilhelm Meisters Wanderjahre” seine Auffassung einer neuen Erziehung.
Wenn Käthe Kollwitz auch nicht ausdrücklich von Pädogogik spricht, indem sie Goethe in einem Erziehungskontext erwähnt, so läßt sich doch klar erkennen, dass sie dieser neuen Auffassung von Erziehung zustimmt:
« [ich] betonte Hansens wirklich vorhandene starke Neigung. Peter hatte viel eher das, was Goethe meint, er hatte es sogar erheblicher » – 13. März 1917 –
– « Die Kinder [ Hansens Zwillinge] sind köstlich. Blühend – nicht nervös – kräftig. In den herrlichen Entwicklungszeit von zwei Jahren, wo Goethe sagt, dass wenn es so weiterginge aus jedem Kind ein Genie zu werden verspräche. » – August 1925 –
Gustav Wyneken, Philologe und Theologe von Beruf, war die treibende Kraft der Jugendbewegung. Er setzte die neuen erzieherischen Konzepte in die Praxis um, indem er offene und gemischt-geschlechtliche Landerziehungsheime gründete, eine Art von ‘pädagogischen Provinzen’ und übte einen offenkundigen Einfluss auf die deutsche, links intellektuelle Jugend aus, so auch auf die Söhne von Käthe Kollwitz.
– « Hans ist momentan so eingenommen von diesen Ideen, dass er daran denkt den Oberlehrer zu machen und dann in ein Landerziehungsheim zu gehen. » [April1914]
-« Von Wynekens Plan – der Jugendburg – gesprochen. Davon ausgehend über gemeinsame Erziehung der Geschlechter. » -16. August 1916 –
Die Zeitschrift ‘Anfang’, sehr von der Weltauffassung Wynekens beeinflusst, war in gewisser Weise das Organ der Bewegung. Sie wurde von Georg Gretor gegründet, dem Sohn von Rosa Pfäffinger, der zwölfjährig von seiner Mutter der Familie Kollwitz anvertraut worden war. Käthe Kollwitz erwähnt ihn sehr oft in ihren Tagebüchern.
Alle jungen Redakteure von “ der Anfang – Zeitschrift der Jugend”, unter ihnen die Söhne von Käthe Kollwitz, schrieben unter Pseudonymen: Georg war “Barbizon”, Hans “Fiascherino”, Walter Benjamin “Ardor” (letztes Pseudonym kommt nicht in ihrem Tagebuch vor):
« dass sein Geschlechtsleben erwacht, geht – abgesehen von den körperlichen Merkmalen – auch daraus hervor, dass er [ Hans] anfängt zu philosophieren, Gott leugnet. – Im « Anfang » schreibt er unter« Fiascherino » – 18. August 1910 –
« Die Spaltungen im « Anfang ». Guttmann und Heinle in ihrem unerklärlichen Benehmen gegen Barbizon …. Hans hält sich zu Barbizon,….Benjamin schreibt einen Offenen Brief an Wyneken…. » – April 1914 –
Von der Theorie zur Umsetzung in die Praxis
Gemeinschaften, Gartenstädte, Schulen
Gemeinschaften wie der Monte Verità oder die von Blankenburg wurden im Geiste der Jugendbewegung gegründet; ebenso Gartenstädte wie Hellerau, Siedlungen wie Lichtenrade; Erziehungsheime wie Lindenhof oder Schloss Bischofstein; Schulen wie etwa die von Eugenie Schwarzwald… um nur diejenigen zu zitieren mit denen Käthe Kollwitz in Kontakt war, entweder persönlich oder über Familienmitglieder, Freunde und Bekannte.
« Wir wollen Siedlungen gründen; wir wollen, dass die Arbeiter Landarbeit, auf dem Feld und in den Gärten, und Industriearbeit, in Werkstätten und Fabriken, vereinigen; wir wollen recht viele, nach Möglichkeit alle unsere Bedürfnisse selbst herstellen.» Die Siedlung(1910),Gustav Landauer –
Gustav Landauer, der als wichtigste intellektuelle Figur der freiheitlichen deutschen Bewegung galt, war kein Unbekannter für Käthe Kollwitz.
Kathrin Laessig, eine Freundin ihrer Söhne, die einige Zeit bei der Familie Kollwitz gelebt hatte, kannte Landauer persönlich und schrieb in seiner Zeitschrift “der Sozialist”:
– « Landauer, den sie [Kathrin Laessig] aufgesucht hat und mit dem sie 3 Stunden über Fragen des Anarchismus usw. gesprochen hat, hat ihr geraten ihre Ideen für sein Blatt aufzuschreiben. » -November 1913-
Käthe hat Frau Landauer bei sich empfangen:
« Ein müder Tag. Das Wetter wie alle Tage stürmisch und regnerisch. Gegen Abend kommt Frau Landauer Kathrine besuchen. » – Sonnabend, 9. Januar 1916 –
Sie hat zwei Konferenzen Landauers über Goethe beigewohnt:
– « Am Mittwoch der erste Landauer-Vortrag über Goethe : Goethe als Befreier .” – 3. November 1916 –
Sie hat Landauers “Briefe an die Revolution” Karl zum Geburtstag geschenkt.
Freitag 13. Mittags, Karls Geburtstag wieder zu Haus ….Hans schenkt Photographien, ich Landauer « Revolutionsbriefe ». » – Sonntag 15. Juni 1919 –
Sie hat seine Tochter Brigitte während ihres Aufenthaltes im Mai 1927 in Ascona (Monte Verità) getroffen.
– « 12. April bis 7. Mai Reise nach Ascona…. Die vielerlei Menschen, die wir kennenlernten : Die Werefkin, Frick und seine Freundin… Frau Frida Gross….. Brigitte Landauer….» [Mai 1927]
Monte Verità
- a) Ein Ort avantgardistischer Experimente
1900 gründen einige utopische Idealisten am Ufer des ‘lago maggiore’, oberhalb des Dorfes
Ascona, die ‘vegetarische, kooperative Kolonie Monte Verità’, ein Ort zum Ausprobieren einer avantgardistischen Lebensweise, die radikal mit den etablierten Konventionen bricht. Der Monte Verità zog all diejenigen an, die vor der Hektik der Groβstadt fliehen wollten um im Einklang mit der Natur zu leben.
Alles, was zum etablierten Leben dieser Epoche in Opposition stand, war vertreten: die Rückkehr zur Natur, die orientalische Denkweise, die Theosophie, die vegetarische Ernährung, der freiheitliche Sozialismus und die freien, sexuellen Beziehungen. Aus ganz Europa kam man, aber vor allem aus Nord- und Osteuropa: Schriftsteller (Hermann Hesse), Philosophen (Rudolf Steiner), Psychoanalytiker (C.G.Jung, O.Gross), Künstler (die Dadaisten, Mitglieder des Bauhauses, Isadora Duncan…), Anarchisten (P. Kropotkine, E. Mühsam)… kamen hierher, um neue Kraft zu schöpfen und Inspiration zu suchen:
“Die Bewohner hassten den Eigenbesitz, praktizierten einen strengen Moralcode, eine strikt vegetarische Ernährung und die Freikörperkultur. Sie verwarfen die Konventionen in Sachen Heirat, Kleidung, politischer Parteien und Dogmen.”
Walter Segal (britischer Architekt, der sich in Monte Verità aufgehalten hatte).
- b) Koloniebewohner und Gäste
Einige wohnten ständig dort, andere kamen zu einem kurzen Aufenthalt ins Sanatorium der Kolonie, oder um bekannte Bewohner zu besuchen:
die Kollwitz, ihr Sohn Hans und seine Frau Ottilie, die Goeschs (Gertrud Prengel – Kusine von Käthe Kollwitz und ihr Mann Heinrich Goesch), sowie eine gute Anzahl der Intelligenzschicht und die Theoretiker der neuen Denkschule – C.G.Jung, A.Bebel, R.Steiner… verbrachten zumindest einen kurzen Aufenthalt an diesem Ort, der von Beginn der ersten Jahren seiner Existenz an ein Symbol der Opposition zu einer Welt wurde, die ihren Idealen nicht mehr entsprach.
« Hans und Ottilie sind in Ascona zur Erholung » – März 1925 –
– « 12. April bis 7. Mai Reise nach Ascona…. Die Zeit in Ascona durchaus schön. Die Landschaft herrlich, frei ohne Süßlichkeit…. Die vielerlei Menschen, die wir kennenlernten : Die Werefkin, Frick und seine Freundin… Frau Frida Gross….. Brigitte Landauer….» … » [Mai 1927]
Gertrud und Heinrich Goesch lebten einige Zeit in Ascona, im strikten Gehorsam der Lebensregeln des Monte Verità, und praktizierten den ‘sexuellen Kommunismus’ (Marianne Weber), der von Otto Gross verherrlicht wurde.
- c) Otto Gross, seine revolutionären Theorien und ihre Abschweifungen
Otto Gross, Arzt und Psychoanalytiker, vorherrschende Figur des Monte Verità, mit einem starken Charisma, Verführer und Manipulator, bekehrte ein grosse Anzahl von Koloniebewohnern zu seinen Theorien zur Sexualität, deren Umsetzung in die Praxis manchmal verheerende Folgen hatte.
Max Wertheimer, ein Freund des Ehepaares Goesch, das unter den Einfluss dieses ‘Scharlatanes’ geraten war, strengte einen Prozess gegen Otto Gross an, wegen Nichtachtung der berufsethischen Regeln und Gefährdung seiner Patienten. Karl Kollwitz wurde als Zeuge ans Gericht berufen, als Cousin von Gertrud Goesch:
Gestern hat Karl eine Aufforderung vom Münchener Gericht bekommen über Gross auszusagen. Er hat es ausführlich und mit Namennennung und Zeugenangabe getan.» – 24. September 1909 –
Dieser Prozess alarmierte das Ehepaar Kollwitz hinsichtlich der Gefahren von Gross’ Methoden, Methoden, deren Gertrud und Heinrich sich nach ihrem Aufenthalt auf dem Monte Verità rühmten.
«In der Zeitung ist von einem Ehepaar Schack die Rede, das durch die Zeitung eine 4wöchentliche Reisebegleitung suchte. Die gesuchte junge Dame sollte sowohl mit dem Mann als auch mit der Frau geschlechtlich verkehren. Das erinnert an Goeschs, die nicht nur Polygamie propagieren, sondern zugleich Homosexualität . » – 8. September 1909 –
Ihr Bekehrungseifer war nicht ohne Einfluss: Lisa schenkte den Thesen aufmerksames Gehör. Grete Prengel, Käthes Cousine ersten Grades, setzte sie in die Praxis um:
« Lise ist doch durch Goeschs beeinflusst. Durch das offenen Bekenntnis zur Polygamie. Das imponiert ihr. Und scheint ihr eventuell nachahmenswert. » – 20. August 1909-
– « Er [Hans Prengel] teilte mit, dass Grete von ihm fort sei und mit einem Kunstmaler hier in Berlin lebe. Er sagt es sei « Heinrichs Werk ». » – 24. September 1909-
Karl und Käthe fürchteten den Einfluss der Goeschs auf Hans, der damals 16 Jahre alt war. Sie brachen die Beziehung mit ihnen eine Zeit lang ab:
Ich sagte … wir stünden ebenso wie Sterns und lehnten den Verkehr mit Heinrich [Goesch] vor allem mit Rücksicht auf Hans ab. » – 20. Mai 1910 –
- « Hans sagte mir, er hätte Sehnsucht nach Goeschs » – 6. Oktober 1909-
Erst später erfuhr Käthe aus dem Mund von Goeschs selbst, in welchem Maβe Gertrud eine überzeugte Anhängerin war:
Am 10. Oktober bei Goeschs…. Beide haben ganz ohne Rückhalt und ausführlich mit mir gesprochen. Es liegt doch ganz anders als wir vermuteten und sehr seltsam …. Nicht Heinrich sondern Gertrud ist der Witterer gewesen für alle geistigen Ausflüge (meinetwegen Ausschweifungen). Es wäre so zu verstehen, ….dass sie, als Frau instinktiv stärker erfassend, als erste praktisch das Ganze gelebt hat, indem sie mit Gross ein Verhältnis hatte und seine Ideen mit leidenschaftlichem weiblichen Radikalismus durchkostete. » [ Oktober 1924 ]
Mehrere ‘Patienten’ von Gross litten unter schweren, psychologischen Störungen und zwei unter ihnen, Sophie Benz und Lotte Chatemmer, begingen sogar mit seiner Hilfe Selbstmord.
« Grete Prengel hat im Sommer einen Zustand von Verfolgungswahn gehabt, ist in die Charité eingeliefert. » – Oktober 1912-
- d) Der Ausdruckstanz
Auf dem Monte Verità ging die Befreiung des Körpers durch eine tabulose Sexualität einher mit der Befreiung des Körpers durch den Tanz.
Der Monte Verità wird übrigens als Wiege des Ausdruckstanzes betrachtet.
Emile Jacques-Dalcroze und Rudolf von Laban, die Theoretiker dieser neuen Kunst der Bewegung kamen auf den Hügel von Ascona, um sie zu unterrichten.
Der Ausdruck im Tanz bricht völlig mit der esthetischen und narrativen Weise des klassischen Balletts und zeichnet sich durch Improvisation und totale Ausdruckfreiheit der Gefühle und Emotionen aus:
“Der an technischen Kombinationen körperlicher Haltungen reichste Tanz wird immer nur eine Beschäftigung ohne Bedeutung oder Wert sein, falls es nicht sein Ziel ist, die menschlichen Emotionen wiederzuspiegeln.” E. Jaques-Dalcroze ( 1865-1950).
Der körperliche Ausdruck menschlicher Gefühle, manchmal nackt vollzogen, konnte auch von Spiritualität geprägt sein, von Mystizismus, wie in der Eurythmie, einer Art esoterischem, getanztem Ritual, von der Antroprosophie Rudolf Steiners inspiriert.
Zwei Töchter von Lise, Käthes Schwester, schlugen eine berufliche Laufbahn als Tänzerinnen ein:
“Die Lise hat es richtig gemacht als sie die Hanna Schauspielerin werden ließ und die Katrine Tänzerin. “ – 27. August 1916 –
Lise schrieb ab und zu in den sozialistischen Monatsheften. Sie wurde mit der eben neu geschaffenen Rubrik der ‘Eurythmie’ beauftragt. In ihren Artikeln brachte sie alle neuen Tendenzen der Tanzkunst zur Sprache: sie sprach von Josephine Baker, den Ausdruckstänzern, von Rudolf von Laban, der anthroposophischen Bewegung Loheland, dessen Grundkonzept Kunst, Tanz und Landarbeit einbezog:
« Lisens Rundschau über Bewegungskunst. Famos ist an Lise ihre eigene Beweglichkeit, die sie alles Neue, neu sich Bildenwollende, so witterungsartig rasch erfassen läßt. » – April 1926 –
Käthe Kollwitz interessierte sich natürlich für diese neuen Entwicklungen. Sie sah nicht nur ihre Nichten auf der Bühne, sondern auch einige der berühmtesten expressionistischen Tänzerinnen dieser Epoche; Dore Hoyer– expressionistische Tänzerin und Choreographin – widmete Käthe sogar einen ihrer Ballettänze: ‘Tänze für Käthe Kollwitz’ (1946)
– “Am 6. sehn wir Matray und Katrine [Stern] tanzen. » [6. Dezember 1918]
– « Am Sonnabend abends Grete Wiesenthal tanzen sehn.» – Montag 13. Dezember 1915
– « Niddy Impekoven tanzen sehn. Sehr begabt. Viel Können, Temperament, Drolligkeit. » – Mitte April 1920 –
- « Hilde Schewiot gesehen. Gut – sehr gut. » – 5. Februar 1925 –
Hans Koch und die Landkommune von Blankenburg
Hans Koch war einer der besten Freunde von Peter Kollwitz.
Während des Sommers 1918 verbrachten Hans Koch, Peter Kollwitz und zwei andere Kameraden, Erich Krems und Richard Noll, ihre Ferien in Norwegen, als sie von der Kriegserklärung erfuhren. Sie fuhren überstürzt nach Hause um sich als Freiwillige zu melden – sie waren noch nicht alt genug, um eingezogen zu werden – Hans Koch ist der einzige der vier Kameraden, der den Krieg überlebt hat:
– “ Nun lebt nur noch der Hans Koch von den 4 Jungen, die zusammen eintraten. » – 7. August 1916 –
Käthe Kollwitz, die Hans für exzentrisch hielt, und sich oft über dessen Persönlichkeit ärgerte, blieb ihm doch sehr nahe, denn er war das lebende Band zu ihrem verstorbenen Sohn.
1916 wurde Hans Koch wegen schwerer Verletzung aus dem Kriegsdienst entlassen. Er engagierte sich in der »pazifistischen Bewegung’ und gründete mit einem Kreis von Gesinnungsgenossen eine anarchistisch-kommunistische Gemeinschaft in Berlin, die sie selbst “Anarchisten-Kommune” nannten.
«ich denke mir, dass er so eifrig in dem neu geschaffenen Kreis lebt und ich keine Fühlung zu dem habe. Wenn ich ihn von den gymnastischen Abenden sprechen höre und von den Kleidern, die sie dazu brauchen, kommt mir das gar nicht so wichtig vor . » – 17. Oktober 1916 –
– « Hans Koch war gestern hier. Eine neue Wandlung, eine ganz gute. Zum Frieden. Zum Arbeiten mit allen Kräften für den Frieden. Kein Abwarten mehr, sondern tun, agitieren. » -12. Juli 1917-
Die Polizei verdächtigte sie subversiver Tätigkeiten, so dass sie nach Bayern flohen und dank des Geldes eines Koloniebewohners des Monte Verità, Georg Kaiser, ein großes Anwesen in Blankenburg erstanden.
« An Peters Geburtstag kam ein Brief von Hans Koch. Er schreibt, dass er bei Augsburg 13 Morgen Land gekauft hat und dass sie da eine kommunistische Siedlung gründen wollen. » – 9. Februar 1919 –
Frei von den Zwängen des Kapitalismus, aber nicht direkt in eine politischen Opposition zum System impliziert, konnten sie in Blankenburg nach ihren antiautoritären Prinzipien leben und ein Gemeinschaftssystem ohne jegliche Hierarchie organisieren, selbstverwaltet, zu den Werten der Landarbeit zurückfinden und freie Liebe praktizieren.
- « Am Montag mit Hans in einer Vormittags-Zusammenkunft in der Siedlungsfrage. Hans Koch, … und einige andere gegenüber proletarischer Jugend, die ziemlich skeptisch ist und nicht mit Unrecht Hans Koch vorwirft, dass seine Pläne nicht sozialistisch revolutionäre seien, sondern noch mehr anarchistisch individuelle…… Mit Hans Koch nach Hause gegangen. Er bleibt bis abends bei uns und setzt uns seine schönen kommunistischen Siedlungspläne auseinander. Muss wieder so sehr, so sehr und so schmerzlich an Peter denken. Wie würde der mitfliegen mit all diesen Plänen….. » [23. -24. Februar 1919]
- Peter wäre ‘mitgeflogen’ mit den freiheitlichen Projekten seines Freundes Hans. Lise, Käthes Schwester, begierig nach allem, was mit der Lebensreform zu tun hat, begeistert sich für die gemeinschaftliche Erfahrung von Blankenburg und verbringt dort sogar einen Aufenthalt mit einer ihrer Töchter:
- es wird wohl Platz bei ihnen [ bei Sterns], weil Lise daran denkt, mit Maria in die Hans Kochsche kommunistische Siedlung zu gehen. » – 27. Februar 1919
- Aber die Erfahrung dauerte nicht lange. Im Mai 1919, gleich nach dem Sturz der ‘Münchner Räterepublik’ verdächtigten die Behörden die Koloniebewohner Max Lieven, einen der führenden Kräfte der Räterepublik, zu verstecken und räumten die Kolonie:
- –« die schlimme Nachricht, dass Hans Koch wieder verhaftet ist. Und wie es heute in der Freiheit steht, ist die ganze Kolonie Blankenburg ausgehoben, außer Hans noch 8 junge Leute und 2 Frauen. » – 23. juni 1919 –
Gartenstädte
Werkstätten und Gartenstadt von Dresden-Hellerau
Anders leben, anders denken, anders arbeiten, nahm konkrete Formen an: ungefähr zur selben Zeit, zu der auch der Monte Verità gegründet wurde, wurden innovative Städte gebaut.Es waren richtige Schaufenster der Lebensreform unter allen Aspekten:Architektur, Wohnen, Künste, Arbeit, Unterrichtswesen…. Die Gartenstadt von Dresden-Hellerau war mit Sicherheit das gelungenste Projekt des “utopistischen, sozialistischen Ideals” (Bruno Taut, Architekt und Stadtplaner). Eine Stadt von revolutionärer Architektur, in der sich soziale Klassen in einem offenen Wohnbereich mischen, mit groβen Glasfenstern, die sich auf landschaftlich gestaltete Anlagen öffnen und wo die Werkstätten Kunsthandwerk und industrielle Produktion vereinen, und so eine neue Unternehmenskultur in die Praxis umsetzen, die auf einer Arbeitsgemeinschaft zwischen Arbeitern und Ingenieuren beruht.
Hans Koch, leidenschaftlicher Anhänger der Lebensreform, dachte einige Zeit daran, dort zu arbeiten und Gustav Wyneken hatte vor, dort eine Schule zu gründen, in der man nach den reformierten Pädagogikmethoden unterrichtete.
“ Hans Koch war da. Dem geht es gut …..dann seine Pläne, in den Dresdener Werkstätten zu arbeiten in Hellerau. Wyneken will dort eine neue Schule aufmachen. » – 30. Juni 1918 –
Grete Wiesenthal, Tänzerin und Choreographin, in die Hans Kollwitz als Jugendlicher sehr verliebt war, besuchte häufig das Haus Kollwitz und studierte bei Emile Jaques-Dalcroze. Dieser Choreograph, einer der ersten Theoretiker des zeitgenössischen Tanzes, unterrichtete nicht nur in Hellerau, sondern auch auf dem Monte Verità.
« Hans ist wirklich recht verliebt in Grete Wiesenthal. Es ist sicher mehr als seine gewöhnliche Schauspielerinnenschwärmerei, es ist heftige Verliebtheit. » – Anfang Mai 1910 –
– « Die Jungen kamen nach Hause, Hans zuerst mit strahlendem Gesicht, sie haben mit Grete Wiesenthal gesprochen und sie will herkommen. » – 13. Mai 1910 –
Lichtenrade “Abendrotsiedlung”
In kleinerem Rahmen wurden nach denselben Prinzipien Siedlungen in Städten gegründet, wie das Viertel von Lichtenrade, genannt: “Abendrotsiedlung”. Sie wurde nach Plänen von Bruno Taut entworfen und als kooperatives Wohnen gedacht.
Hans Kollwitz und seine Familie lieβen sich dort nieder, umgeben von ihren Freunden: Paul Fechter, Schriftsteller und Kunstkritiker, Bruno Goetz, baltischer Schriftsteller und ehemaliger Koloniebewohner vom Monte Verità. Die Goeschs, die Goetz seit jener Zeit kannte, stieβen nach ihrer Rückkehr von Ascona auch zu dieser kleinen Gemeinschaft.
« Hans und Otty haben mit Ottys Geld in Lichtenrade in einer Siedlung ein Häuschen gekauft. Als Nachbarn Goeschs und deren Freunde Goetz’. Auch Fechters Ziehen hin. » – Anfang Juni 1921 –
– « Wir waren dann noch bei Goeschs drüben. Da ist es immer sehr schön, die kleinen Räume mit den vielen Menschen und Kindern sind so sehr gemütlich. Heinrich in der Mitte der Wandbank sitzend raucht und spricht. Gertrud mit dem Säugling und all das andre Kinderkrabbelzeug. » – 3. Oktober 1921-
– « Nachmittags saßen wir mit Goeschs, Goetz’ …. Mindestens 16 Personen, alle in einer Stube, Mensch an Mensch. Ich hatte wieder dies starke Gefühl , wenn so viele Menschen, von uns Älteren bis zu Säuglingen herunter, alles animalisch eng zusammenhockt und doch etwas Geistiges da ist. Wie hier, wo Goetz Heinrichs und nachher Pauls Gedichte vorlas. Auch die Kinder so ruhig eingefügt sitzen und sich wohl fühlen. » – 6. November 1922 –
Übrigens beschreibt Paul Fechter in seinem Roman “die Rückkehr zur Natur” (1929) und in seinen Memoiren “Menschen und Zeiten” (1948) detailliert und unterhaltsam die kleine Gesellschaft, die sich in Lichtenrade um die Familie von Heinrich Goesch und die von Hans Kollwitz gebildet hatte.
Schulen und Erziehungsheime
Keine Lebensreform ohne Unterrichtsreform: die Reformpädagogik brachte eine groβe Anzahl von Schulen und Erziehungsheimen hervor: Die Odenwaldschule von Paul Geheeb, Schloss Bischofstein von Hermann Lietz, die Waldorfschule von Rudolf Steiner, die freie Schulgemeinschaft von Wickersdorf von Gustav Wyneken, die Schwarzwaldschule von Eugenie Schwarzwald und das Erziehungsheim Lindenhof von Karl Wilker, um nur einige zu zitieren, diejenigen, von denen Käthe Kollwitz in ihren Tagebüchern spricht, denn sie kannte ihre Initiatoren oder ihre Lehrer oft persönlich.
Odenwaldschule/ Schloss Bischofstein
Beate Jeep, eine der besten Freundinnen Käthes, war mit Arthur Bonus verheiratet, einem Freidenker und Theologen, der Latein und Religion in der Odenwaldschule und dann in Schloss Bischofstein unterrichtete. Der Direktor Wilhelm Ripke, ein erbitterter Gegner des Nationalsozialismus, nahm jeden Lehrer auf, der sich gegen die etablierte Ordnung stellte.
Käthe Kollwitz und ihr Mann Karl verbrachten einige Zeit bei ihren Freunden Bonus, sowohl im Odenwald bei Heppenheim als auch in Lengenfeld als Standorten der Reformschulen.
Unter dem DDR-Regime beherbergte Schloss Bischofstein eine Schule mit dem Namen “Käthe Kollwitz”!
« Im Mai in Gronau im Odenwald. Eine Stunde von der Schule wo Bonus’ sind…. Fast täglich zu Bonus’ gegangen oder sie zum 1. Frühstück zu uns gekommen. Die Fichte-Feir, wo Bonus so gut sprach. » – [Anfang] Juni 1921 –
– « Am 4. Juli 1932 reisen wir nach Bischofstein ab und verleben dort 2 ½ schöne Wochen…. nicht zu eng und doch gemütlich und anregend. Ripkes kommen eine Woche später. Mein sehr netter Geburtstag. Das Zusammensitzen mit Bonus Jeep und Annie auf der Terrasse bei Kaffee und Kuchen.» [Juli 1932]
Lindenhof
Käthe Kollwitz war es gewohnt, Konferenzen mit unterschiedlichen Themen beizuwohnen: die Künste, die Literatur, die Politik… so ging sie auch einmal zu einer Konferenz über die Reformpädagogik. Durch ihre Söhne war sie empfänglich dafür, denn sie hatten sich für die Reformbewegung von Gustav Wyneken eingesetzt.
- « Die Tagung der Entschiedenen Schulreform, dort nach langem Alexander wiedergesehen. Auch Elsbeth Kühnen…. » – 31. Oktober 1920 –
Sie war sehr beeindruckt von der Handlungsweise Karl Wilkers, dem Direktor des Lindenhofs, eines der symbolträchtigsten Zentren der Reformpädagogik:
« der Direktor Karl Wilker von der Fürsorgeanstalt Lindenhof. Ungeheuer interessant ….. Seine erste Tat ist, dass er dort alle Gitterfenster abnehmen lässt, die Prügelstrafe aufhebt, die Jungen als moralisch Gleichwertige behandelt. Sein Leitsatz: der Mensch ist gut. Er lebt ganz und gar mit den Jungen, steht jedem und immer zur Verfügung. » – 31. Oktober 1920 –
Die Schwarzwaldschule
Käthe Kollwitz verkehrte oft mit der Pädagogin und Feministin Eugenie Schwarzwald, seitdem sie sie im Jahre 1923 durch das österreichische Hilfskomitee kennengelernt hatte. Eugenie hatte es gegründet, um den Berlinern während der groβen Inflation zu Hilfe zu kommen.
« Eugenie Schwarzwald hat die Österreichische Schlossküche hier [Berlin] eröffnet. » [ November 1923 ]
- « Von den Sommerwochen in Grundlsee zurück. Sehr gesellige Ferien. Im Erholungsheim Grundlsee, viele Leute zusammen, eine engere Gemeinschaft um Genia Schwarzwald. » – Ende August 1924 –
Eugenie Schwarzwalds Schule in Wien war kein Landerziehungsheim mit Internat, wie die Odenwaldschule oder die von Schloss Bischofstein, sondern eine städtische Einrichtung für Mädchen, die die Methoden der Reformpädagogik anwandte. Persönlichkeiten wie Arnold Schönberg oder Oskar Kokoschka haben dort unterrichtet und Eugenie unterhielt einen stetigen Ideenaustausch mit Maria Montessori.
Im März 1938, zur Zeit des « Anschlusses », wurde die Schule geschlossen und Eugenie Schwarzwald zur Auswanderung gezwungen.
Schlusswort
Ab 1933, dem Jahr der Machtübernahme Hitlers, wurde alles, was in Opposition zur nationalsozialistischen Ideologie stand, zensiert, verboten, ja sogar aufgelöst:
Im Jahre 1933 nahm die gemeinschaftliche Erfahrung in Hellerau ein Ende; 1936 wurde der Direktor von Schloss Bischofstein, Wilhelm Ripke, seines Amtes enthoben und von einem Regimetreuen ersetzt. 1939 wurden die Erzieher der Odenwaldschule entlassen, die sich für eine freiheitliche Erziehung einsetzen, und die Einrichtung vom “Reichs-Arbeitsdienst” übernommen.
1943 wurde Bischofstein eine Schule zur Ausbildung von SS Soldaten…. Die Denker, Aktivisten und Kämpfer des freiheitlichen Sozialismus, in der Mehrzahl Lebensreformer, wurden verfolgt: eine groβe Anzahl wanderte aus (R. Friedeberg, K.Wilker, B.Taut…), manche wurden verhaftet, deportiert und in den Vernichtungslagern ermordet (E.Mühsam…), andere begingen sogar Selbstmord (W.Benjamin).
So verwundert es nicht, dass Käthe Kollwitz, die den freiheitlichen, sozialistischen Ideen nahe stand, aber offenkundig auch denen des Kommunismus, von der Gestapo behelligt wurde und ihre Ausstellungen, unter dem Vorwand des “Kulturbolschewismus” verboten wurden. In dem Artikel, der in der Iswestija erschien, wird es beschrieben:
“Für die deutschen Faschisten ist Käthe Kollwitz das Symbol des « Kulturbolschewismus » ; das bedeutet im heutigen Deutschland das größte Verbrechen…. » -3. Juni 1936 – die Iswestija –Dieser Artikel entfesselte die Wut der Nazis und gab ihnen die Gelegenheit, Käthe anzuklagen und ihr sogar mit Deportation zu drohen.
Man musste übrigens nicht, wie es bei Käthe Kollwitz der Fall war, der kommunistischen Partei angehören und für ihre Ziele kämpfen, um als Bolschewik bezichtigt und strafrechtlich verfolgt zu werden. Es genügte, politisch links zu stehen und einen Einfluss auf die Massen zu haben, sei es, durch Literatur, Journalismus oder Kunst als Ausdrucksmittel…
Der Ausdruck « Kulturbolchewismus » ist die Waffe, mit welcher die heute Deutschland beherrschenden Mächte jede geistige Leistung unterdrücken, die nicht ihren eigenen politischen Tendenzen dient. (…) Im übrigen braucht der Kulturbolchewist mit Kulturbolchewismus nicht das Allermindeste zu tun zu haben, und hat es tatsächlich auch nur in den allerseltensten Fällen. (…) Jedenfalls verdient er es, zugrunde zu gehen, weil er « undeutsch » ist, auch nicht « aufbauwillig », « jüdisch-analytisch », ohne Ehrfurcht vor den guten alten Überlieferungen (…) « pazifistisch ».…» – Klaus Mann- April 1933-
Von systemkritischen, alternativen Bewegungen vom Ende des 19. Jahrhunderts: “ in [einer] Zeit der Aufhebung der alten Werte. »- Ende September 1913 – , bis zu ihrem Niedergang durch den aufsteigenden Nationalsozialismus, geben uns die Tagebücher von Käthe Kollwitz ein lebendiges Zeugnis der Involvierung des Bildungsbürgertums in das, was wir heute eine “Gegenkultur” nennen würden:
« Nur nach Zerstörung dieser Welt [wird ]eine neue reine, naiv schaffende entstehen. » – 2. Mai 1919 –

« Frühlingssturm » – 1894/95 – Ludwig von Hofmann – collection particulière
Sylvie Pertoci
(Übersetzung/Traduction: Sabine Leupold)